Annelie Keil Mit einem Kind flieht es sich leichter

An ihrem sechsten Geburtstag im Januar 1945 sitzt Annelie Keil frierend auf einem Schlitten, in den Händen hält sie ihre Geburtstagstorte. Ihre Mutter zieht sie zum Bahnhof von Ciechocinek, von den deutschen Besatzern 1939 in Hermannsbad umbenannt, in der Hoffnung auf einen Zug Richtung Westen.

 

Geboren wird Annelie Keil am 17. Januar 1939 in Berlin. Die alleinstehende Mutter bringt sie nach der Geburt in einem Kinderheim unter. Dieses Heim wird im Sinne der deutschen Besiedlungspläne nach der Vertreibung der ansässigen Bevölkerung 1940 in die annektierten Gebiete Polens, in die Stadt Ciechocinek im „Reichsgau Wartheland" umgesiedelt. Ihre Mutter zieht auf Betreiben von Annelies Vater ebenfalls dorthin und führt in dem Kurort ein kleines Hotel. Annelie erlebt zufriedene Kleinkindjahre. Kurz vor der Evakuierung des Kinderheimes bei Kriegsende holt die Mutter ihr Kind am 17. Januar 1945 ab, um auf eigene Faust vor der heranrückenden Front zu fliehen, denn – so die Mutter – mit einem Kind fliehe es sich leichter.

 

Nach endlosem und vergeblichem Warten auf eine Zugfahrt bilden die Flüchtlinge Trecks, in denen sie weiterziehen. Viele, so auch Annelie und ihre Mutter, werden von der sowjetischen Armee bald überholt. Die Sechsjährige erlebt in diesen Wochen, was Krieg bedeutet. Oft wird sie in die verlassenen Dörfer vorgeschickt, um die Lage auszukundschaften und Essbares mitzubringen. Mit der Mutter kommt sie in ein polnisch-sowjetisches Lager für Frauen und Kinder. Nur der Nachweis über eine Gefängnisstrafe wegen des Abhörens von Feindsendern 1943 bewahrt Annelies Mutter vor dem Abtransport zur Zwangsarbeit. In dem Gefangenenlager kümmert sich ein russischer Soldat um das kleine Kind und schenkt ihr als Andenken eine Trillerpfeife. Als Annelie und ihre Mutter nach mehreren Monaten aus dem Straflager entkommen, tauscht das Mädchen an einem Bahnhof die Trillerpfeife für zwei Fahrkarten nach Berlin ein. Von dort werden sie Ende 1947 weitergeschickt nach Friedland. In Friedland werden sie registriert und versorgt. Annelie ist mitgenommen: sie hat auf der langen Flucht Ruhr und Typhus durchgemacht, nun quälen sie Krätze und Läuse. Eitrige Wunden auf dem Kopf führen dazu, dass ihr in Friedland die Haare abgeschnitten werden müssen.

 

Mit der Begrüßung in Friedland „Jetzt sind Sie zuhause" kann das Mädchen nichts anfangen. Sie kennen doch hier niemanden. In Friedland spielt sie das erste Mal seit langem „wie ein normales Kind" mit anderen Kindern. Es beeindruckt sie, dass sie mit Essen versorgt werden. Lange musste sie sich jede Mahlzeit erkämpfen. Von Friedland werden Mutter und Tochter mit einem Adresszettel in der Hand weitergeschickt nach Bad Oeynhausen, wo sie in einem einfachen, unmöblierten Zimmer einquartiert werden. In der Schule erlebt sie Ausgrenzungen und Beschimpfungen. Doch sie wehrt sich, engagiert sich sozial und im Sport. Trotz der ärmlichen Familienverhältnisse studiert sie, promoviert 1968 und wird 1971 Professorin für Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen.

 

Heute wirft sie einen versöhnlichen Blick auf die Geschichte und die gemeinsame Flucht mit ihrer Mutter.

Eugen Meyer