Im Laufe ihres Lebens hatte die Schriftstellerin immer wieder versucht, eine Spur von ihrer Mutter zu finden, doch wieder und wieder ohne Erfolg. Eigentlich hatte sie es schon aufgegeben, als sie vor vier Jahren durch Zufall bei einer russischen Internet-Suchmaschine fündig wurde. So beginnt Natascha Wodins Buch „Sie kam aus Mariupol“ und so beginnt auch die Lesung, die der Göttinger Literaturherbst in Kooperation mit dem Museum Friedland gestern Abend veranstaltet hat. Natascha Wodin liest mit leiser, intimer Stimme, sie spricht mehr zu sich selbst als zu den knapp 300 Menschen im Saal. Die hören gebannt zu, es herrscht eine konzentrierte Stille.
Ihre Mutter sei für sie „nur noch ein Schemen, mehr ein Gefühl“ gewesen als eine Erinnerung. Wenn sie an ihre Mutter denkt, blickt sie in deren Augen und sieht ein "bodenloses Entsetzen". Ihre Mutter wurde in den russischen Bürgerkrieg hineingeboren, erlebte die Gewalt der Diktaturen von Stalin und Hitler. Diese Gewalt sei nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für viele Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion, die wie Wodins Mutter in Deutschland blieben, aber keinesfalls vorbei gewesen, merkt der Kurator des Museums Friedland Dr. Joachim Baur an, der die Lesung moderiert. Er erinnert daran, dass die rassistische Propaganda der Nazis gegen „die Russen“ noch lange nach Kriegsende im Bewusstsein der Öffentlichkeit nachgewirkt habe. Natascha Wodin erzählt, wie sie als Kind beschimpft, verprügelt, angefeindet wurde.
Insgesamt habe das Leiden der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen in Deutschland bislang von offizieller Seite wenig Beachtung gefunden, sagt Natascha Wodin. Das könnte sich durch ihr berührendes, vielfach preisgekröntes Buch ändern. Durch dieses Buch habe sich ihr eigenes Leben sehr stark gewandelt, sagt die Schriftstellerin: Sie ist ständig auf Lesereisen, gibt Interviews, viele Menschen schreiben ihr. Auch das scheint die 71-Jährige noch gar nicht richtig glauben zu können.
Eva Völker
Sie kam aus Mariupol, Natascha Wodin, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 3/2017, 357 S., € 19,95, ISBN 978 3 498 07389 3